Montag, 8. Februar 2010

Ein dichterisches Kunstwerk

Dr. Reinhard Deichgräber schreibt in "Lobe...und du lebst":

In Deutschland verbinden wie mit einem Gedicht die Regeln von Rhytmus und Reim. In den Psalmen vermissen wir beides und darum haben wir es schwer, den Text als Dichtung zu erleben und zu würdigen.
Doch eine einfache Beobachtung kann uns weiterhelfen.
Unsere deutschen Gedichte leben vom Klangreim mit seinen unglaublich reichen Möglichkeiten.
So reimen wir "sang" auf "klang, "klein" und "rein", "Herz" und "Scherz" oder auch "saufen" auf "raufen".
Die hebräische Poesie reimt nicht Klänge, sondern Gedanken.
So entsteht die Doppelzeiligkeit, die jedem, der Psalmen betet, so schnell vertraut wird, der "Parallelismus der Glieder", wie Wissenschaftler diese Kunstform nennen.

Dabei wird derselbe Gedanke zweimal, jedoch mit verschiedenen Worten ausgedrückt:

Ich will den Herrn loben allezeit;
sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.
(Psalm 34, 2)

Manchmal bringt das zweite Glied einen zusätzlichen Gesichtspunkt ein:

Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
(Psalm 103, 2)

Auch eine gegensätzliche Formulierung kann vorkommen:

Reiche müssen darben und hungern;
aber die den Herrn suchen, haben keinen Mangel
an irgendeinem Gut.
(Psalm 34,11)

Die wiederholende Redeweise bringt es mit sich, dass der Gedankengang nur langsam voranschreitet.
Er geht mehr in die Tiefe als in die Ferne, und die beiden parallelen Aussagen interpretieren sich wechselseitig.
Wer sich auf diese Kunstform geduldig einlässt, wer ihre Schönheit gerade auch durch lautes Lesen zum Klingen bringt, wird irgendwann die Tragkraft spüren, die in dieser zunächst fremden Redeweise liegt und sich ihr gerne anvertrauen.

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